Bei Anruf Buch
Neue Attraktion in der Gewerbegasse: Bioladen-Betreiber Erwin Hurter stellte eine Telefonzelle auf
Reichenhaller Tagblatt / Freilassinger Anzeiger, 28.06.2021
Freilassing. Schon bisher gehörte eine „Bücher-Theke“ fest zum Inventar der Freilassinger Gewerbegasse. Aufgestellt hat sie Erwin Hurter, Inhaber des Freilassinger Bioladens – dem diese Möglichkeit zum Büchertausch allerdings nicht mehr reichte. Stattdessen hat er nun eine 50 Jahre alte Telefonzelle aufgetrieben, die randvoll gefüllt ist mit Büchern. Die Heimatzeitung hat ihn zu dem neuen, in auffälligem Hellgrün gehaltenen Hingucker interviewt.
Beitragsbild: Volle Auswahl im Regal, das in der umfunktionierten Telefonzelle platziert ist. − Fotos: Julian Traublinger
Hallo Herr Hurter, wie kamen Sie denn auf die Idee, vor Ihrem Laden eine Telefonzelle aufzustellen?
Erwin Hurter: Ich habe so etwas selber schon gesehen, zum Beispiel in Bad Aibling, Salzburg oder Oberndorf. Aber keine war so schön und gepflegt wie die unsere (lacht). Vielleicht zur Vorgeschichte, meine Kuchentheke war nach drei Wochen defekt. Ich fand sie zu schade zum Wegschmeißen, da entstand die Idee, Bücher darin anzubieten. Kuchenrondell raus, Bücherregal rein, so hat es sich immer weiterentwickelt.
Sie verkaufen Bücher?
Hurter: Ach wo! Die Bücher kann jeder hineinstellen, der welche zum Ausmustern hat. Und jeder, der auf der Suche ist, darf Bücher mitnehmen. Das ist unser Service.
Wie kam es denn zu dem „Quantensprung“?
Hurter: Vor circa einem Jahr wurde die Kuchentheke zu klein für die vielen Bücher. Ich habe seitdem lange auf Ebay gesucht, bis ich eine bezahlbare Telefonzelle als Ersatz bekommen habe. Das sind ja fast schon Wertanlagen, eine alte, klassische britische Telefonzelle kostet mehrere tausend Euro und die Dinger werden immer teurer. Ich habe mich dann mit einem erschwinglicheren Exemplar von 1971 zufrieden gegeben. Es stand ursprünglich im Landkreis Eichstätt. Mein Mitarbeiter durfte sie streichen. Mit etwas Hartnäckigkeit haben wir auch die hellgrüne Farbe bekommen. Wobei so mancher Kunde wehmütig dem gelben Nostalgie-Post-Charme hinterher trauert. Mir gefällt sie so (schmunzelt).
Die Telefonzelle hat ja jetzt auch wirklich ein hübsches Gesicht…
Hurter: Stimmt, das Fotomodell ist Mira Singh, die Tochter meiner Freundin. Sie gestaltet wahnsinnig gerne Grußkarten. Von mir bekam sie deshalb den Auftrag zum Schmücken der Telefonzelle. Da sie es nicht rechtzeitig schaffte, musste sie selbst drauf, das hatte ich mit ihr ausgemacht. Mit dem Impuls-Magazin war für eine günstige Plakatwerbung gesorgt. Insgesamt habe ich über 1000 Euro für die Telefonzelle investiert.
Sie haben sicher beobachtet, wie die Neuerung bei den Kunden ankam, oder?
Hurter: Es ist ein richtiger Magnet geworden. Der Wahnsinn, wie es dort zugeht! Die Leute müssen einfach hinschauen, was es da gibt. Nebenbei muss ich einen Dank an den Bürgermeister aussprechen. Ich habe mich direkt an ihn gewandt und bei ihm angerufen, durch seine freundliche, bürgerorientierte Art wurde die Telefonzelle erst möglich. Wenn ich schon dabei bin, vielleicht sollte ich auch erwähnen, dass fast jeden Tag eine pensionierte Lehrerin kommt und dafür sorgt, dass keine vergammelten Bücher drin bleiben. Jetzt muss ich nur noch die Zeitschaltuhr für die nächtliche Beleuchtung richtig programmieren, dann ist der „Bücherspender“ perfekt!
Beim derzeitigen Sommerwetter heizt sich die Telefonzelle doch unangenehm auf?
Hurter: An der Klimaanlage wird noch gespart. Aber Scherz beiseite, ein gutes Buch will verdient sein. Wobei die meisten es schaffen, mit dem Popo beim Stöbern die Tür aufzuhalten.
Die Bücher-Zelle ist ja nicht die einzige Neuerung, die es zuletzt in der Gewerbegasse gab. Auch neue Geschäfte und Restaurants haben aufgemacht oder stehen kurz davor.
Hurter: Bei uns ist mehr los, als in der Fußgängerzone (lacht). Ich war schon immer in Freilassing, beruflich, eigentlich mein halbes Leben lang. Aber ich habe nie hier gewohnt und habe mir nicht allzu viel daraus gemacht. Seit ich den Laden habe, habe ich eine richtige Liebe zu dieser Stadt entwickelt. Wenn ich diese Liebe zu Freilassing nicht hätte, würde ich keine Telefonzelle kaufen und hinstellen.
Was gibt es sonst noch von dem Projekt zu erzählen?
Hurter: Es wäre interessant, wie viel Müll vermieden wird, mit dem Wiederverwenden von Büchern…
Wer wirft denn bitte Bücher weg?
Hurter: Haben Sie eine Ahnung, was Bücher weggeworfen werden – ach, massenhaft! Auch wenn viele das nicht schaffen. Und in meiner Telefonzelle gibt es regelrechte Goldschätze. Einmal habe ich ein Soldatenbuch von 1908 gefunden, noch vor dem Ersten Weltkrieg. Da kann man herauslesen, wie stolz die Soldaten auf ihren Beruf waren. Der Inhalt ist schwer zusammenzufassen. Es wurden zum Beispiel Erfindungen der damaligen Zeit vorgestellt. Ein Antiquar schätzte das Buch auf einen Verkaufswert zwischen 20 und 200 Euro, je nach Interesse beim Käufer. Eine Dame hat ein Buch mit einer persönlichen Widmung des Autors gefunden, der schon seit Jahrzehnten verstorben war. Eine andere fand just das erhoffte Kinderbuch, das nicht mehr der modernen Korrektheit entsprach und nirgends mehr erhältlich war. Es lohnt sich also, in die Telefonzelle zu gehen.
Das Interview führte Julian Traublinger