Wolfgang Fieweger am Eisernen Steg in Freilassing

„Sich ein Auto zu sparen, wäre gut für jede Familie“

„Spaziergang“ mit Wolfgang Fieweger – Er ist im Freilassinger Stadtentwicklungsbeirat zuständig für Mobilität und Verkehr

Reichenhaller Tagblatt / Freilassinger Anzeiger, 22.02.2022

Beitragsbild: Wolfgang Fieweger bei seinen Ausführungen am Eisernen Steg. Auch hier bemängelt er die fehlende Barrierefreiheit. − Foto: Julian Traublinger

Freilassing. Ein Dauerbrenner ist in Freilassing wie an so vielen Orten der Verkehr. Mit Mobilität und Verkehr beschäftigt sich Wolfgang Fieweger persönlich als Vertreter der örtlichen Bürgerschaft im Stadtentwicklungsbeirat. Dem 67-jährigen ehemaligen Stadtrat sind besonders die Barrierefreiheit und die Umgestaltung des Verkehrsraums zugunsten von Gehbehinderten, Fußgängern und Radfahrern wichtig.

Hallo, Herr Fieweger! Sind wir auf dem Weg zur klimafreundlichen Kommune, zumindest was die Fortbewegungsmittel angeht?
Wolfgang Fieweger: Wir wissen, dass die Klimaveränderung stattfindet. Das wird auch hier vor Ort deutlich, ob es Stürme sind, das Hochwasser 2013 oder die zerstörte Rodelbahn. Zu meiner Jugendzeit, vor 50 Jahren, wurde der erste Bericht des Club of Rome in der Schule behandelt. Vor 30 Jahren, als ich Stadtrat war, fand der Umweltgipfel in Rio statt. Früher gab es Informationsmaterial praktisch nur auf Englisch. Das war für mich auch eine Barriere, weil ich kein Englisch kann. Das ist mittlerweile viel besser. Wir haben Angst vor der Veränderung, dabei ergeben sich große Chancen. Eine positive Veränderung ist zum Teil schon eingeleitet, aber noch nicht im Bewusstsein. Die Medien spielen dabei auch eine Rolle. Es geht um Auflagen, Mord und Totschlag verkauft sich besser, die Sachthemen fallen dabei oft hinten runter. So ergeben sich eben Barrieren im Kopf.

Wie bewegen sich die Leute hier überhaupt im Verkehr? Können Sie sagen, wie viel zu Fuß gegangen, mit dem (Elektro-)Fahrrad oder Zug, Bus, Taxi oder dem eigenen Auto gefahren wird?
Fieweger: Es gibt offizielle Verkehrszählungen, zuletzt mit dem ISEK (Anm. d. Red.: das Integrierte Stadtentwicklungskonzept) von 2012, davor in den neunziger Jahren. Es hat sich nicht viel verändert. Im Schnitt macht jeder Bürger circa vier Wege am Tag. In Freilassing waren das grob gesagt bei 16000 Einwohnern etwa 60000 Wege und Fahrten am Tag. Davon 17 Prozent zu Fuß, 32 Prozent mit dem Fahrrad, vier Prozent mit dem ÖPNV. Also 53 Prozent der Wege wurden umweltfreundlich zurückgelegt und 47 Prozent mit dem Kfz – eigentlich kein schlechtes Ergebnis. Dabei handelt sich um den Gesamtverkehr. Im Binnenverkehr sind es: zu Fuß 22 Prozent, mit dem Fahrrad 40,2 Prozent, der ÖPNV macht 1,85 Prozent aus. Kfz-Selbstfahrer sind 28,6 Prozent und Mitfahrer 7,27 Prozent. Durch die Bahnstrecke, welche die Stadt sozusagen viertelt oder hauptsächlich in Nord und Süd teilt, ist es günstiger, mit dem Radl zu fahren oder zu Fuß zu gehen, statt das Auto zu nehmen. Nachdem Freilassing flach ist und einen Durchmesser von nicht mehr als drei, vier Kilometern hat, bietet es sich an, sowohl auf das Auto zu verzichten, als auch sich das Geld für den ÖPNV zu sparen. Für E-Bikes gibt es keine Freilassinger Zahlen. Bundesweit besitzt jeder achte Haushalt mindestens ein E-Bike. Im ländlichen Raum ist allerdings der Anteil erheblich höher. So kann man für Freilassing in etwa 700 bis 1000 rechnen.


„Entscheider sind Männer, die selbst Auto fahren“


Und wie stellt sich das konkret mit der Barrierefreiheit dar?
Fieweger: Sie haben gerade etwas versäumt. Ein Dreiradfahrer hier am Eisernen Steg musste sich zuerst sammeln und hat dann mühsam sein Gefährt hochgeschoben. Nach jeder kleinen Etappe musste er verschnaufen. Barrierefreiheit war damals beim Bau kein Thema, auch gesetzlich. Mittlerweile gelten eine maximale Steigung von sechs Prozent und nach sechs Metern ein Erholungspodest. Die einzige barrierefreie Möglichkeit, die Bahn zu queren, gibt es seit ein paar Jahren. Das ist die Autounterführung der Reichenhaller Straße, die im Zuge des dritten Gleises mit Fuß- und Radweg ausgebaut wurde. Die kombinierte Fußgänger- und Fahrradunterführung ist nicht barrierefrei, genauso wenig wie der Eiserne Steg oder die Unterführung in Sailen. Hier beim Steg ist die Rupertusstraße eine Barriere für Radler und Fußgänger, auf dem Weg zu Lerchenstraße oder Sonnenfeld. Es gab schon Anträge auf eine Querungshilfe und Tempo 30. Das ließ sich aber bei Behörden und Stadtrat nicht durchsetzen.

Wie kommt das?
Fieweger: Das ist das Windschutzscheibendenken. Die Entscheider sind meistens Männer, die selbst Auto fahren, entsprechend sind sie auch eingestellt. Um die Perspektive zu wechseln, sollte man einmal mit dem Rollstuhl oder mit Gewichten an den Beinen oder mit einem Rollator die Gegend erkunden. Mit der ISEK-Verkehrsarbeitsgruppe haben wir so etwas gemacht. Das war für die Teilnehmer sehr eindrucksvoll.

Was halten Sie von der Forderung, vom eigenen Kfz auf den ÖPNV umzusteigen? Sind Vorteile messbar, zum Beispiel bei den Luftschadstoffen?
Fieweger: Das ist ganz logisch, dass es messbar ist. Die Hälfte aller Autofahrten liegt unter fünf Kilometern Strecke. Diese kurzen Fahrten sollte man möglichst vermeiden. Der Spritverbrauch befindet sich in den ersten paar Minuten hochgerechnet bei 30 bis 40 Litern pro 100 Kilometer, auf die ersten fünf Kilometer bei 10 bis 15 Litern. Auch bei der Besetzungsrate der Fahrzeuge sieht es nicht gut aus. Der Schnitt liegt innerorts bei 1,4 Personen. Das hat sich seit den neunziger Jahren kaum verändert. Die jungen Leute fahren weniger mit dem Auto und machen auch nicht so oft den Führerschein. Aber das reicht nicht. Wenn man sich ein Auto sparen könnte, wäre das eine unheimlich gute Geschichte für jede Familie. Auch die Einsparung von Stellplätzen wäre von Vorteil. Wenn man das angeht, erreicht man eine Minderung der Schadstoffe, weniger Lärm und weniger Gefahren.

Was fällt Ihnen noch zum Kfz-Verkehr in Freilassing ein?
Fieweger: Keiner wollte vor 30 Jahren Tempo 30. Es kam trotzdem fast flächendeckend im Ort. Das war in Bayern einzigartig. Bei den Zebrastreifen wäre eine Angleichung an Salzburg sinnvoll. Dort gibt es fast an jeder Fußgängerquerung die entsprechende Markierung auf der Fahrbahn. Die Autofahrer sind es gewohnt, anzuhalten. Das würde in Freilassing auch nicht schaden.

Sie hatten das ISEK erwähnt. Seine Umsetzung wird ab und an eingefordert, es wirkt dabei aber untot. Welche Rolle sollte das ISEK Ihrer Meinung nach bei der örtlichen Verkehrspolitik spielen?
Fieweger: Das ISEK spielt generell für die städtische Planung eine Rolle, denn es ist Bedingung für eine finanzielle Förderung. Der Stadtentwicklungsbeirat soll schauen, dass die Grundzüge des ISEK beachtet werden, und das passiert ja auch. Im ISEK stehen auch überdachte Radlabstellplätze. Diese fehlen überall, zum Beispiel am Krankenhaus, beim Rathaus, oder in der Innenstadt. Für letztere wird an der Umsetzung gearbeitet und es könnte dann auch Schließfächer geben. Eines der wichtigsten Dinge im ISEK ist, dass die Radler auf den Hauptverkehrsstraßen, also wo man 50 fahren darf, geschützt werden. Und dass bei höherer Frequenz eine Trennung von Fußgängern und Radlern stattfindet. Das wäre dann in der Münchener Straße vor den Aicher-Neubauten und dem Awo-Seniorenheim notwendig. Auch in der Industriestraße wären separate Geh- und Radwege nach dem ISEK von Nöten. Das bringt mich auch auf eine Studie zu einem Radschnellweg von Bad Reichenhall nach Freilassing. Diese schlägt einen Streckenverlauf entlang der Bahn vor. Ich könnte mir vorstellen, dass eine wichtige Radverbindung von Mitterfelden über Hofham, den Eisernen Steg, die Obere Feldstraße und Surheimer Straße weiter bis Surheim verlaufen könnte.

Freilassing wuchs mit der Eisenbahn und der Einwanderung und gilt als Eisenbahnerstadt. Wird es diesem Titel gerecht, Stichwort barrierefreier Bahnhof und öffentliche WCs?
Fieweger: Historisch ja. Aber nein, wenn man es derzeit auf die Barrierefreiheit münzt, dem wird es sicherlich nicht gerecht. Die Eisenbahn spielt aber auch nicht mehr die Rolle. Früher wurde zum Beispiel noch rangiert. Der Güterbahnhof war eine Riesen-Lärmbelästigung in der Nacht. Aber da hat sich niemand beschwert. Es wird allerdings demnächst eine Entscheidung zum barrierefreien Bahnhof fallen. Damit kann die Stadt und vor allem die Bahn wieder Boden gut machen.


„Die Aufzugvariante könnte wieder eine Option werden“


Bleiben wir beim Bahnhof. Hier geht es darum, wie die Leute mit schwerem Gepäck, mit Fahrrädern oder gehbehindert auch zu den Gleisen kommen. Wie ist hier der Stand?
Fieweger: Die ideale Lösung wäre eine Fortführung der jetzigen Gleiszugänge vom Bahnhofsgebäude aus weiter nach Norden in die Stadt. Das brauchst du in einem Oberzentrum, wo rund drei Viertel der Einwohner auf der anderen Seite der Gleise wohnen. Technisch ist das kein Problem. Aber diesen Durchbruch kann sich die Stadt finanziell nicht leisten angesichts der vielen anstehenden Investitionen, die in der Vergangenheit verschlafen wurden. Wir sollten aber nicht das Ideale suchen, sonst passiert die nächsten 30 Jahre wieder nichts. Eine Steglösung wurde schon zur ISEK-Zeit verworfen, da die nötigen Rampen für Radler zu viel Fläche brauchen. Ich bin überzeugt, dass Aufzüge zu der Radl-Unterführung eine Verbesserung wären. Da anscheinend Kernbohrungen vorgenommen wurden, könnte die Aufzugsvariante wieder eine Option werden. Was für die Nutzer der Bahnsteige von Gleis 2 und 3, 4 und 5, aber auch 7 und 8 sicherlich ein Gewinn wäre.

Aber ist das wirklich machbar? Dann stoßen ja Aufzugfahrer mit Radlern zusammen und oben zwischen den Gleisen ist nicht genug Platz.
Fieweger: Da muss man sich eben etwas einfallen lassen. Zum Beispiel eine Radler-Ampel, die bei Aufzugbetrieb auf Rot schaltet, oder einfach in dem Bereich schieben. Eine Möglichkeit ist auch, die Überdachungen an den Aufgängen abzusenken, um oben mehr Platz für den Bahnsteig zu haben. So wie es aussieht, wird die Bahn einen entsprechenden Vorschlag machen. Ich würde das begrüßen, auch wenn mir die Verlängerung lieber wäre. Dazu beigetragen hat vielleicht auch eine Petition an den Landtag, für die sich Stadträtin Stefanie Riehl eingesetzt hat.

Gibt es Erkenntnisse, wie viele Rollstuhl-, Rollator- und Kleinmobilfahrer oder Gehbehinderte und Blinde es in Freilassing gibt, was ihre Bedürfnisse sind und welche Angebote sie finden, speziell im Verkehr? Welchen Verbesserungsbedarf für die einzelnen Gruppen sehen Sie?
Fieweger: Da müsste ich recherchieren. Eine Maßnahme wäre, Gehsteigkanten komplett abzusenken. Auch eine niedrige Stufe von ein bis zwei Zentimetern ist eine Hürde für Rollator-Fahrer. Das ist ein irrsinniger Aufwand, trotzdem gehört etwas gemacht. Da es in Freilassing nur wenige Einrichtungen für Alte und Behinderte gibt, gehe ich davon aus, dass die Zahl der Betroffenen eher im Bundesschnitt liegt. Genaueres müsste das Landratsamt wissen. Es wird in der Stadt allerdings schon viel gemacht. Zug um Zug werden Buswartehäuschen aufgestellt, Bordsteine abgesenkt und Bodenreliefs für Sehbehinderte geschaffen.

Was hat die hiesige Radl-Initiative bewirkt? Wird sie noch gebraucht?
Fieweger: Menschen, die mitdenken und im Gemeinsinn denken, sind immer gefragt und auch nötig. Aber auch die Fähigkeit zu Kompromissen und das Akzeptieren von Beschlüssen sind wichtig, allgemein gesagt.

Auch Taxifahrten gehören zum ÖPNV. Was mache ich, wenn ich in Freilassing nachts ein Taxi brauche?
Fieweger: Hier ist die Barriere die Grenze, dass der Salzburger Taxler sich hier nicht herstellen darf – Blödsinn! Die Salzburger sollten wenigstens über Nacht kommen dürfen, wenn die Freilassinger Taxi-Betriebe nicht zur Verfügung stehen.

Warum gibt es im Stadtrat keinen Referenten für Verkehr?
Fieweger: (lacht) Das weiß ich nicht, vielleicht… (hält inne)? Jedenfalls sehe ich es positiv, dass wieder Referentenposten eingeführt wurden. Es könnte auch Kümmerer geben, ähnlich wie im Stadtentwicklungsbeirat.

Es spazierte: Julian Traublinger.


Zur Person

„Ich bin 1954 in Steinhöring bei Ebersberg geboren, werde 68 Jahre heuer. Aufgewachsen bin ich in München und lebe seit über 40 Jahren in Ainring beziehungsweise in Freilassing. Die Verkehrspolitik beschäftigt mich seit den Achtziger Jahren. Als junger Krankenpfleger war ich in einem Jahr mit dem Tod dreier Kinder konfrontiert, die im Straßenverkehr ihr Leben verloren. Das lässt mich auch heute noch nicht los. Seitdem wirkte ich in diversen Verkehrsarbeitskreisen mit, besuchte zahlreiche Seminare und Verkehrskongresse, um vor allem vor Ort Verbesserungen zu erreichen. Auch im ISEK Prozess konnte ich wertvolle Kenntnisse sammeln. Doch es geht nicht nur um die Sicherheit. Lärm und Abgase belasten die Menschen. Der Verkehr trägt erheblich zur Klimaveränderung bei. Auch wir in Freilassing sind gefordert, hier gegenzusteuern und dies birgt mehr Chancen als wir annehmen. Diesen Prozess möchte ich gern begleiten.“