The Coronation
Die Krönung
Charles Eisenstein, April 2020 (englisches Original: „The Coronation“, März 2020)
Übersetzung von Eike Richter, Michelle Warkentin, Stephan Pfannschmidt, Daniel Germer und Nikola Winter. Es gibt eine englische Version dieses Aufsatzes (siehe am Ende dieses Textes).
Beitragsbild: Ein schwarzer Schwan aus einer Illustration um 1790, Wikipedia, gemeinfrei („Dieses Werk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.“)
„Unsere Normalität ist jahrelang überdehnt worden. Wie ein Seil, das fester und immer fester angezogen wird, bis es, zum Zerreißen gespannt, nur darauf wartet, dass der schwarze Schwan[1] kommt und es mit seinem Schnabel durchknipst. Jetzt, wo das Seil entzwei ist, werden wir es einfach wieder zusammenknoten, oder sollen wir seine baumelnden Enden noch weiter aufdröseln und sehen, ob wir mit ihnen nicht etwas neues weben können?
COVID-19 zeigt uns, dass ein unglaublich schneller Wandel möglich ist, wenn die Menschheit in einer gemeinsamen Sache vereint ist. Keines der Probleme unserer Welt ist technisch schwer zu lösen; sie rühren von der Uneinigkeit der Menschen her. Wenn die Menschheit kohärent handelt, sind ihre kreativen Kräfte grenzenlos. Vor wenigen Monaten wäre eine weltweite Unterbrechung der kommerziellen Luftfahrt undenkbar gewesen, ebenso die radikalen Veränderungen in unserem gesellschaftlichen Verhalten, in der Wirtschaft und in der Rolle, die die Regierung in unserem Leben spielt. COVID-19 demonstriert die Macht unseres kollektiven Willens, wenn wir uns darauf einigen können, was wichtig ist. Was könnten wir mit einer solchen Kohärenz noch alles erreichen? Was möchten wir erreichen, und welche Welt wollen wir erschaffen? Das ist immer die erste Frage, die auftaucht, nachdem man sich der eigenen Macht bewusst geworden ist.
COVID-19 ist wie der Aufenthalt in einer Entzugsklinik, durch den ein suchtkranker Mensch aus seiner Alltagsnormalität gerissen wird. Indem eine Gewohnheit unterbrochen wird, wird sie sichtbar gemacht. Damit wird sie von einem Zwang zu einer Entscheidung. Wenn die Krise abflaut, haben wir vielleicht die Gelegenheit uns zu fragen, ob wir in die alte Normalität zurück wollen, oder ob wir während dieser Unterbrechung unserer Routinen Dinge erlebt haben, die wir in die Zukunft mitnehmen wollen. Wir werden uns vielleicht fragen, nachdem so viele ihre Jobs verloren haben, ob wirklich alle davon das waren, was die Welt am meisten braucht oder ob unsere Arbeitskraft und Kreativität nicht anderswo besser angebracht wäre? Wir werden uns vielleicht fragen, nachdem wir eine Weile ohne sie ausgekommen sein werden, ob wir wirklich so viel Luftverkehr, Disneyland-Urlaube oder Handelsausstellungen brauchen. Welche Bereiche der Wirtschaft möchten wir wiederherstellen, und von welchen wollen wir uns bewusst verabschieden? COVID hat möglicherweise eine militärische Intervention zum Sturz des Regimes in Venezuela verhindert – vielleicht sind imperialistische Kriege ja eines der Dinge, auf die wir in einer Zukunft globaler Kooperation verzichten. Und auf einer düsteren Ebene, für welche der Dinge, die uns jetzt gerade weggenommen werden – bürgerliche Freiheiten, Versammlungsfreiheit, die Souveränität über unseren eigenen Körper, persönliche Treffen, Umarmungen, Handschläge und öffentliches Leben – kann es notwendig werden, dass wir mit unserem bewussten politischen oder persönlichen Willen dafür werden einstehen müssen, wenn wir sie zurückhaben wollen?
Die meiste Zeit meines Lebens hatte ich den Eindruck, dass sich die Menschheit einem Scheideweg nähert. Immer hat die Krise, der Kollaps, die Unterbrechung unmittelbar hinter der nächsten Wegbiegung gelauert, aber sie kam und kam nicht. Stell dir vor, du gehst einen Weg entlang und siehst sie vor dir, du siehst die große Kreuzung. Gleich hinter dem Hügel, hinter der nächsten Kurve, hinter dem Wald. Du erreichst die Hügelkuppe und siehst, dass du dich geirrt hast, es war ein Trugbild, sie ist doch weiter entfernt als du dachtest. Du gehst weiter. Manchmal siehst du sie, manchmal verschwindet sie aus deinem Blickfeld, und es scheint, also zöge sich der Weg ewig hin. Vielleicht gibt es gar keine Kreuzung? Nein, da ist sie wieder! Immer ist sie fast da. Nie ist sie da.
Jetzt biegen wir um die Kurve, und – da ist sie! Wir bleiben verdattert stehen, ungläubig, dass es jetzt passiert, ungläubig, dass wir nach so vielen Jahren, die wir auf den Weg unserer Vorfahren beschränkt waren, endlich eine Wahl haben. Wir stehen wie angewurzelt und staunen über diese nie dagewesene Situation. Hunderte Pfade tun sich vor uns auf, streben in alle Himmelsrichtungen. Manche führen in die gleiche Richtung, in die wir schon unterwegs waren. Manche führen in die Hölle auf Erden. Und manche führen in eine Welt, die heiler und schöner ist, als wir uns in unseren kühnsten Träumen ausmalen konnten.
Ich schreibe diese Worte, weil ich hier mit Dir stehe – verdutzt, ein bisschen ängstlich vielleicht, aber auch mit dem Gefühl einer neuen Möglichkeit – an diesem Punkt, wo sich die Wege scheiden. Lass uns gemeinsam schauen, wohin einige von ihnen führen.
Folgende Geschichte hat mir eine Freundin letzte Woche erzählt. Sie war in einem Lebensmittelladen und sah eine Frau schluchzend in einem Gang stehen. Alle Abstandsregeln missachtend, ging sie zu der Frau und umarmte sie. „Danke,“ sagte die Frau, „das ist das erste Mal in zehn Tagen, dass mich jemand umarmt hat.“
Ein paar Wochen ohne Umarmungen zu leben mag ein kleiner Preis dafür sein, dass eine Epidemie eingedämmt wird, die Millionen das Leben kosten könnte. Anfangs galt als Argument für das Einhalten des Sicherheitsabstands, dass es einen plötzlichen Anstieg von COVID-19 Fällen verhindert, der das Gesundheitssystem überlastet. Nun teilen uns die Autoritäten mit, dass manches an räumlicher Distanzierung auf unbegrenzte Zeit eingehalten werden müsse, zumindest so lange, bis ein wirksamer Impfstoff gefunden wurde. Ich würde dieses Argument aber gern in einen größeren Zusammenhang stellen, vor allem, wenn es um einen längeren Zeitraum geht. Bevor wir das Abstandhalten zu einer neuen Norm machen, nach der sich die Gesellschaft orientiert, lasst uns bedenken, was für eine Entscheidung wir hier treffen und warum. […]“ Ganzes Essay: https://charleseisenstein.org/essays/die-kronung/
Englischsprachiges Original: https://charleseisenstein.org/essays/the-coronation/
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[1] d.Ü.: Metapher für ein Ereignis, das selten und höchst unwahrscheinlich ist.