Gibt dem Café der Begegnung der Caritas in Bad Reichenhall ein Gesicht: Sozialpädagogin Julia Schmied. − Foto: Julian Traublinger

Der letzte Ausweg

Substitutionstherapie als Lebensretter für Suchtkranke – Drei Helfer und ein Betroffener erzählen

Reichenhaller Tagblatt / Freilassinger Anzeiger, 14.01.2023, Julian Traublinger

Beitragsbild: Gibt dem Café der Begegnung der Caritas in Bad Reichenhall ein Gesicht: Sozialpädagogin Julia Schmied. − Foto: Julian Traublinger

Straftat Sucht? (Kommentar)

BGL/Freilassing. Sie sind chronisch abhängig von Heroin oder vergleichbaren Drogen, haben Entgiftungen und Entzug hinter sich, aber kommen einfach nicht los: Ungefähr 100 Suchtkranke werden derzeit im Landkreis mit Ersatzstoffen als sogenannte Substituierte behandelt.

Die Krankheit hat viele Gesichter. Manche Betroffene wachsen mit dem Drogenmissbrauch auf, andere erleiden Schicksalsschläge, wieder andere wollen ihre psychischen Beschwerden selbst therapieren. Es kann praktisch jeden treffen. Doch in der öffentlichen Wahrnehmung ist das Thema nur wenig präsent, eine Lobby praktisch nicht vorhanden. So gibt es auch im Landkreis zu wenig Angebote und die Situation dürfte sich weiter zuspitzen.

Arbeitslosigkeit, Armut und Einsamkeit sind Begleiterscheinungen und Ursache zugleich. Betroffene gibt es einige, doch ihre Situation bleibt für Außenstehende unsichtbar. Es sind Familienväter, zurückgezogene Singles oder auch Rentner.

„Ich habe mit 14 zu kiffen angefangen und war wegen Schmuggels in Afrika und Spanien elf Monate in Untersuchungshaft“, sagt ein Mittfünfziger aus Freilassing und gibt einen Einblick in seine Lebensgeschichte. Unter Auflagen kommt er ins Berchtesgadener Land und findet sich nicht zurecht, auch angesichts des Empfangs durch einen Staatsanwalt. Mit 23 rutscht er in „harte Sachen“ und verliert seine Dienstwohnung. Mit Namen möchte er nicht in der Zeitung stehen.

Als einen Grund für seinen Lebensweg sieht er die Kriminalisierung der Drogensucht. Weil Kiffen illegal ist, geht er den Weg über den Schwarzmarkt. Dort gibt es die ganze Palette – THC und Härteres. Für ihn gibt es kaum mehr einen Ausweg – doch mit Hilfe eines Substitutionsarztes findet er ihn. Heute ist er froh, dass seine Drogenzeit vorbei ist. „Irgendwann hat man Besseres zu tun. Das ganze Im-Rausch-Versumpfen langweilt mich.“ Er nimmt Polamidon. Anders als Heroin berauscht es nicht, außerdem nimmt es die Entzugserscheinungen. Dem langjährigen Klienten geht es mit der Suchttherapie mittlerweile gut. Er ist jetzt stabil und bekommt allmählich eine geringere Dosis.


Für ein geregeltes Leben – ohne Entzugserscheinungen


Für chronisch Drogensüchtige ermöglicht die Verschreibung von Ersatzstoffen ein geregeltes Leben – ohne Entzugserscheinungen, ständiger Sorge aufgrund der Kriminalisierung und des Geldaufwands für die Dealer. Eng zusammen arbeiten dabei die Caritas Fachambulanz für Suchtkranke in Bad Reichenhall, zwei Konsiliarärzte mit Zusatzausbildung in Bad Reichenhall und Freilassing sowie einige weitere niedergelassene Ärzte.

Die Fachambulanz bietet psychosoziale Begleitung für die Substituierten. Ein Patient muss zunächst täglich zum Arzt und in die Apotheke. Wenn es gut läuft, dann folgt die „Take-home-Therapie“ mit einer Wochendosis. Das ist für viele ein großer Schritt vorwärts.

Der Onkologe und Substitutionsarzt Dr. Helmut Tanzer hat einen Vertrag mit der Caritas. Dorthin müssen die Patienten zumindest alle vier bis sechs Wochen zum Termin kommen. Wöchentlich findet ein Hausarzttermin statt und vierteljährlich ein Termin bei ihm als sogenannter Konsiliararzt, der zur Verschreibung von Methadon oder eines anderen Ersatzstoffes berechtigt ist. Die Hausärzte mit Suchtpatienten brauchen mangels Zusatzausbildung die Konsiliarärzte.

Der Sozialpädagoge Günther Schmitzberger leitet die Therapie bei der Fachambulanz. Er ist sowohl in Bad Reichenhall als auch in Freilassing vor Ort. Als Ziel sieht er, aus der Illegalität zu kommen, aber es ist ihm wichtig, dass es den Betroffenen einfach gesundheitlich besser geht. Etwa, was Hepatitis-Infektionen oder Organschäden angeht.

Früher sollte die Suchtfreiheit erreicht werden. Das wird nur selten und nur mit begleitender Psychotherapie möglich, die meisten Patienten leiden ohne das Medikament unter Suchtdruck. Auf der anderen Seite können sie mit dem Substitut stabilisiert werden und ein normales Leben führen. „Beikonsum“ gefährdet diesen Erfolg, wenn nämlich neben der Therapie wieder Drogen genommen werden. Mit Urinkontrollen beim Arzt wird deshalb darauf geachtet, dass sich die Patienten daran halten.

Dr. Helmut Tanzer, Onkologe und Substitutionsarzt (l.) sowie Sozialpädagoge Günther Schmitzberger von der Fachambulanz. − Foto: Privat

Für die Hausärzte ist die Behandlung von Substituierten „nicht lukrativ“, auch durch die Dokumentationspflichten, merkt Schmitzberger an. Dazu kommt eine große Angst der Kolleginnen und Kollegen, dass die Patienten „nicht wartezimmertauglich“ wären, so Dr. Tanzer. Er hingegen sieht sie als „Bereicherung“: „Wenn ein Patient sagt: ,Ich bin jetzt schon seit einem ganzen Jahr nicht mehr im Knast gewesen und das habe ich nur Ihnen zu verdanken‘, das ist unbezahlbar.“

Einig sind sich die Experten nicht zuletzt dabei, dass es zu wenige behandelnde Ärzte gibt. Speziell im Landkreis könnte sich die Lage in den kommenden Jahren zuspitzen, denn der Kollege Dr. Tanzers in Freilassing ist bisher erfolglos auf der Suche nach einem Nachfolger. In Freilassing gilt die Lage als besonders prekär. Wenn der Arzt hier aufhört, gibt es einen „Brennpunkt ohne Versorgung“, wie es Dr. Tanzer ausdrückt. Und die meisten Patienten müssen sich eine neue Praxis suchen. Im ganzen Berchtesgadener Land gibt es Ärzte mit suchtmedizinischer Ausbildung, die keine Substituierten betreuen, weil sie diese Behandlungsform aufgegeben haben. Damit wird der Negativtrend verstärkt.

Verdoppelt sich die Zahl der Behandlungsbedürftigen in Bad Reichenhall, dann ist keine Zeit mehr für die Sorgen der Patienten. Doch die braucht es, wenn es der Arzt gut machen will. Deshalb wären schon drei oder vier Hausärzte als Verstärkung eine große Hilfe.

Eine weitere Institution im Bereich der Drogensucht sind die Staatsanwaltschaften. Diese sollten eigentlich mit den Ärzten an einem Strang ziehen, betont Dr. Tanzer. Gesprächsangebote blieben aber unbeantwortet. „Es gibt bei manchen Justizbeamten noch das Bild vom Dealer in weiß.“

Gegenüber dem möglichen Ärger bestehen mittlerweile einige Anreize für Ärzte. Die Staatsregierung, die kürzlich erst einen Empfang für Substitutionsärzte gab, nimmt das Thema ernst. Auch bei der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB) ist es angekommen. Die Ausbildung in der suchtmedizinischen Grundversorgung wird komplett durch die KVB finanziert. Darüber hinaus gibt es eine Anschubfinanzierung für Hausärzte, die mit Konsiliararzt arbeiten, sowie Zuschüsse für einen Safe oder auch die Urinkontrolle.


Wunsch nach einer echten Ambulanz wie in München


Was die Fachleute sich und den Patienten wünschen, ist eine echte Substitutionsambulanz nach Münchner Vorbild mit Ärzten und Sozialpädagogen, die alles aus einer Hand anbieten. Mit dem Café der Begegnung, zentral gelegen in der Bahnhofsstraße 21 in Bad Reichenhall, ging die Caritas bereits einen großen Schritt in diese Richtung. Das Konzept der Kontakt- und Begegnungsstätte (KuB), wie es im Fachjargon heißt, ist bei der Caritas in Oberbayern „relativ neu“, erläutert Julia Schmied. Sie leitet als Sozialpädagogin das Lokal im Rahmen der Fachambulanz. Das Café sei die niederschwelligste Einrichtung vor Ort. „Man muss nicht nüchtern sein, wir kümmern uns, ob jemand ins Krankenhaus muss, ein Gespräch braucht, oder etwas zu essen“, so Schmied.


US-Fachartikel: Potenziale und Forderungen

Die Aussagen des Betroffenen sowie der hiesigen Experten werden von einem Fachartikel des „The New England Journal of Medicine“ mit Bezug auf die USA bestätigt. In dem Beitrag vom 21. September 2022 schreiben die Autoren, dass die Ärzte unter ihnen „aus erster Hand“ die Effekte der „lebensrettenden, Evidenz-basierten Behandlung von Opioidmissbrauch“ beobachten konnten. Zum einen reduziere sich durch die Substitutionstherapie das Risiko einer tödlichen Überdosis für die Patienten um 82 Prozent. Zum anderen kann die Lebensqualität gesteigert, das Risiko einer HIV- oder Hepatitis-C-Infektion verringert sowie eine Behandlung dieser Krankheiten bei den Substituierten verbessert werden. Die US-Autoren wollen auf einen umfassenden Zugang zu einer Behandlung bei Opioidmissbrauch hinaus. Von der Ausbildung von Personal in allen Gesundheitsberufen über niederschwellige Versorgung bis zu einem Sprachgebrauch von Klinikmitarbeitern und Forschern ohne Stigmatisierung der Patienten reichen ihre Forderungen. Auch sie sehen Einsparungspotenziale, namentlich für die Notfallbehandlung und das Justizsystem.


Das Café besteht seit 2020 und wendet sich speziell an Klienten der Therapieeinrichtung. Sein Angebot umfasst alle Suchtkrankheiten, doch es steht auch psychisch erkrankten Klienten des Gelben Hauses genauso wie Nachbarn, Touristen sowie Passanten offen. Vier Pädagogische Mitarbeiter stehen zur Verfügung. Eine Hauswirtschafterin und eine Putzdame komplettieren das Team.

„Nicht jeder Ort würde so ein Café im Zentrum willkommen heißen“, weiß Schmied. Sie kann von einem guten Dialog mit der Reichenhaller Kommunalpolitik berichten, zumal sie selbst Stadträtin ist. Wenn Schmied entscheiden könnte, würde sie die Hausärzte verpflichten, eine bestimmte Zahl an Suchtpatienten für die Substitutionsbehandlung zu nehmen. „Das sind ja auch keine abgerissenen Typen, sie haben eine Krankheit wie andere auch“, fügt sie hinzu.

Die Lage im Bereich der Substitutionsärzte ist für die Sozialpädagogin „schlichtweg ein Desaster“. Die Substitutionsambulanz ist notwendig, um die Praxen zu entlasten, weil sie die Patienten dann nicht bei sich integrieren müssen. Schmied verspricht sich davon einen engeren Kontakt zu den Patienten, dadurch eine geringere Rückfallquote und weniger „Beikonsum“. Wichtig ist ihr, dass sich die Stigmatisierung von Patienten verringert und bei den Ärzten die Wertschätzung für die Behandlungsform ansteigt.

Angesichts der fehlenden Fürsprecher in der breiten Bevölkerung ist für den interviewten Betroffenen aus Freilassing die Caritas der „Draht zur Politik“. Auf die Lage in Bayern angesprochen, kritisiert er: „Es fängt schon damit an, dass Alkohol legal ist und THC nicht. Den jungen Leuten fällt auf, dass sie belogen werden.“ Deshalb würden sie die staatlichen Informationen nicht ernst nehmen. Überlassen Eltern die geschützte Entwicklung ihrer Kinder weitgehend den Schulen und nehmen diese die Aufgaben dann nicht wahr, greift die Vorbeugung nicht. Prävention zahlt sich aber vielfach aus. „Die Politik muss sehen, dass sie sich Geld sparen kann“, ist sich der Freilassinger sicher.

In puncto Prävention und Entkriminalisierung geht Dr. Tanzer in eine ähnliche Richtung. Er weist auf eine gute Entwicklung Portugals mit der Entkriminalisierung des Konsums, nicht des Dealens, hin. Während es hierzulande erlaubt ist, sich mit 16 Jahren zu betrinken, müssen ältere Krebspatienten bei den Krankenkassen um eine Schmerztherapie mit Cannabis betteln. Dr. Tanzer will nicht für den Drogenkonsum werben. Er hält das Kiffen unter Minderjährigen nicht nur für ungünstig, sondern den übermäßigen Konsum in jungen Jahren für einen Auslöser von langwierigen Hirnentwicklungsstörungen. Eine begrenzte Legalisierung für Erwachsene würde er hingegen begrüßen.


Stationäre Versorgung in Freilassinger Psychiatrie


Gerade bei der Prävention spart die Caritas momentan laut Dr. Tanzer. Überhaupt besteht das Problem für die ambulanten Suchttherapien, dass sie im Vergleich zu stationären Krankenhausbehandlungen nicht viel vom Kuchen der Finanzierung abbekommen. Die Psychiatrie in Freilassing bleibt hier quasi außen vor, für den ambulanten Bereich steht keinerlei Personal zur Verfügung. Stationär ist allerdings derzeit wieder ein Opiatentzug möglich und es werden Patienten mit Psychosen und Aggressivität aufgrund von Drogen behandelt.

„Auch der Sohn oder die Tochter des Zeitungslesers kann auf fachliche Hilfe angewiesen sein“, gibt Dr. Tanzer zu bedenken. Kommt es so weit, dass es scheinbar keinen Ausweg aus der chronischen Sucht gibt, wäre die Substitution eine große Hilfe und oft buchstäblich lebensrettend. Vorausgesetzt, es ist jemand da, der denjenigen medizinisch und psychosozial versorgt.


Kontakt: Caritas Fachambulanz BGL, Bad Reichenhall, Wittelsbacherstraße 10b, Tel.: 08651/95850, Montag bis Freitag von 8 bis 12 Uhr, Montag bis Donnerstag von 13 bis 17 Uhr, Außenstellen in Freilassing und Berchtesgaden sowie Betreuung der JVA Laufen-Lebenau.