Tilo Jung mit Team-Kollege Alexander Theiler vor dem Saal der Bundespressekonferenz

Self-made Journalist Tilo Jung im Interview

Wer wie ich schon immer einmal wissen wollte, wie ein Journalist tickt, der politisch gefärbte Interviews auf höchstem Niveau führt, und das auf Spendenbasis, dem empfehle ich das Interview vom Oktober mit dem Interviewer Tilo Jung. Er begründete sein eigenes Format „Jung und naiv, Politik für Desinteressierte“, worunter Interviews mit Politikern, Wissenschaftlern, Journalisten und Autoren fallen, aber auch „naive Fragen“ in der Bundespressekonferenz.

Hier sei der Beitrag kurz angerissen:

Tilo Jung

Ich habe einen langen Atem.

Mit kritischen Fragen und Crowdfunding ist Tilo Jung zur festen Instanz im deutschen Journalismus geworden. Im ausführlichen Interview spricht er über die Ära Merkel, heikle Interview-Partner, Absagen von der AfD, seine Kritik an Boris Reitschuster, wo er die Öffentlich-Rechtlichen als „staatstragend“ empfindet – und unter welchem Kanzler er Regierungssprecher wird.

Beitragsbild: Tilo Jung mit Team-Kollege Alexander Theiler vor dem Saal der Bundespressekonferenz, Foto © Jung & Naiv

Tilo, die Merkel-Jahre begannen unter anderem damit, dass du 2005 die CDU gewählt hast.

Schön, dass ihr mich nochmal daran erinnert. (lacht)

Könnte das wieder geschehen, sagen wir, in den nächsten vier Legislaturperioden?

Ich würde es nicht ausschließen. Es könnte ja sein, dass man eines Tages, falls die AfD eine Mehrheit bekommt, nur die Wahl zwischen Faschismus und einer demokratischen Partei hat. Wenn es am Ende darum geht, dass die demokratischen Parteien jede Stimme brauchen und die beste wählbare die CDU ist, dann muss es halt so sein.
Oder ein anderes Szenario: die Union fliegt aus der Regierung, erneuert sich in der Opposition rundum, wird grüner als die Grünen und sozialer als die Sozialdemokraten. Es kann ja sein, dass es mal eine progressive, christliche Partei gibt.

Das schließt du nach 16 Jahren Merkel also nicht aus.

Nein. In den USA könnten die Demokraten bald von Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez übernommen werden, warum sollte das in Deutschland unmöglich sein? Es gibt in der CDU auch progressive Leute – progressiv für CDU-Verhältnisse – wie zum Beispiel Bianca Praetorius, die bei der „Klima Union“ mitmacht.
Außer durch Wahlergebnisse ist die beste Möglichkeit, die CDU zu verändern, von innen heraus, indem massig Leute eintreten, die sie verändern wollen. In absehbarer Zeit kann ich mir das nicht vorstellen, aber in vier Legislaturperioden – wer weiß?

Merkels Regierungsstil wurde oft als moderierend bezeichnet. Hat das Deutschland in aufgeregten Zeiten gut getan, dass sie eher versöhnend Politik machte?

Moderierend trifft es sicher, aber dass ihre Politik versöhnend war, würde ich infrage stellen – außer es geht um Versöhnung mit der Wirtschaft. Auf der sozialen Ebene dagegen haben wir so viel Ungleichheit wie nie zuvor. Drei Familien in Deutschland besitzen mittlerweile so viel Vermögen wie die unteren 42 Millionen. Als Merkel angetreten ist, gab es zwei Millionen Sozialwohnungen, was damals schon zu wenig war, bis heute wurde die Anzahl auf eine Million halbiert.

Und dass sie Politik eher moderierte…

Ich glaube, das ist keine typische Merkel-Strategie, sondern eine typisch konservative Art, zu regieren. Denn im Grunde wollen die ja nichts verändern, sondern dass alles so bleibt, wie es ist, dass die Machtverhältnisse erhalten bleiben. Vielleicht macht man hier mal ein bisschen mehr für die Wirtschaft, da ein bisschen mehr für den Mittelstand, damit sich niemand aufregt und die Zustimmung bleibt – ja, da moderiert Merkel. Doch das hat auch Kohl schon so gemacht.

Waren die Merkel-Jahre schlechte Jahre?

So pauschal kann man das nicht sagen. Für die deutsche Wirtschaft waren es gute Jahre. Wobei Merkel von den wirtschaftsfreundlichen Reformen ihres Vorgängers profitiert hat, sie musste nicht mehr so viel neoliberale Politik machen, wie sie es vorhatte. Schaut ins Leipziger Programm! In ihrer Regierungszeit hat sie vor allem Vorstöße von der linken Seite, von der progressive Seite abgewehrt. Das haben wir bei der Mietpreisbremse erlebt, beim Mietendeckel, natürlich so lang es ging beim Mindestlohn. Sobald ihr die Sozialdemokraten in der Groko etwas abgerungen haben, hat die Union es wieder verwässert.

Hätte es etwas genützt, wenn die Amtszeit des Kanzlers auf zwei Legislaturperioden begrenzt wäre?

Das weiß ich nicht. Aber wenn die Frage ist, den Status Quo zu erhalten, oder es auf zwei Perioden zu begrenzen, wäre ich für Letzteres. Denn dann könnte es sein, dass sich eine Kanzlerin sagt: ‚Zur nächsten Wahl kann ich ohnehin nicht kandidieren, ich habe nichts zu verlieren, also tue ich jetzt das, was nötig ist, womit ich in die Geschichtsbücher eingehe.‘ Ich hoffe, Merkel hatte das sogar vor, aber dann kam ihr die Pandemie dazwischen, die uns wiederum ihre Schwächen gezeigt hat. Während Corona haben wir gemerkt, dass sie nicht die starke Kanzlerin ist, wie sie uns immer präsentiert wurde: die Landesfürsten haben die Pandemie-Politik bestimmt und Merkel hat in den Seilen gehangen.

mehr bei Planet Interview, 8. Oktober 2021