Debatte um Radstreifen: Drama in zwei Akten

Nach Patt am Mittwoch: Auch am Donnerstag fällt Idee für radfreundlichere Reichenhaller Straße durch
Reichenhaller Tagblatt / Freilassinger Anzeiger, Johannes Geigenberger, 27.03.2021

Sogenannte Radschutzstreifen – wie hier in Traunreut – wird es vorerst auf der Reichenhaller Straße nicht geben. Eine entsprechende Beschlussvorlage fand gleich zweimal keine Mehrheit. − Foto: Martina Schuster

Siehe dazu auch den Kommentar des Redaktionsleiters Johannes Geigenberger, den Artikel mit einer Stellungnahme des Freilassinger Wifo und jeweils drei Leserbriefe vom 29. März und vom 31. März 2021.

Freilassing. Die Angelegenheit war ausführlich diskutiert worden – um nicht zu sagen zerredet. Und endete am Ende wohl genau deswegen im Fiasko: Die Rede ist von den Ausbauplänen für die Reichenhaller Straße. Nachdem bereits am Mittwoch die Pläne für einen Radschutzstreifen durch ein Abstimmungs-Patt (11:11) abgelehnt worden waren, stand die Angelegenheit wegen Dringlichkeit am Donnerstag gleich wieder auf der Tagesordnung. Doch auch, wenn mit Bernhard Schmähl (Pro Freilassing) und Julia Albrecht (FWG) zwei am Mittwoch verhinderte Stadträte anwesend waren, änderte das an den Mehrheiten nichts: CSU, AfD und vier FWGler stimmten dagegen, die Pro-Stimmen kamen von Dietmar Eder (FWG), „Pro Freilassing“, SPD, Grünen und Bürgermeister Markus Hiebl. Bettina Oestreich (FWG) fehlte beide Male, so dass es am Donnerstag wieder ein Patt gab – nur halt dann 12:12, was die erneute Ablehnung bedeutete.

Die Folge: Vorerst gar kein Beschluss für den weiteren Ausbau. Aus Sicht von Bürgermeister Markus Hiebl die schlechtestmögliche Lösung. Das Stadtoberhaupt hatte Dampf gemacht, die Angelegenheit zu entscheiden, da die Frist für Fördergelder läuft. Dass es ihm trotzdem nicht gelang, für den Ausbau eine Mehrheit zu finden, ist wohl die erste große Klatsche in seiner bisher einjährigen Amtszeit.


Krämer: „Streifen bieten Pseudo-Sicherheit“


Dabei hatte sich das Drama regelrecht angekündigt. 1. Akt: Die Sitzung am Mittwoch. Martina Schuster vom Traunreuter Planungsbüro BSM stellte darin den Räten noch einmal die verschiedenen Möglichkeiten vor, die es für einen Ausbau der Reichenhaller Straße gibt. Sie betrachtete dabei die Straße als Teil der Freilassinger „Nord-Süd-Achse“, die weiter über die Ludwig-Zeller-Straße und die Laufener Straße führt. An all diesen Straßen ist der Platz begrenzt, und alle diese Straßen sollten radfreundlicher werden. An der nun zur Sanierung anstehenden Reichenhaller Straße sollte man damit beginnen, und zwar indem man einen Radschutzstreifen aufbringt. Denn die Alternative – ein gemeinsamer Geh- und Radweg – sei schon aus Platzgründen nicht möglich und erfahrungsgemäß wenig praktikabel – denn man schaffe Konflikte zwischen Radlern und Fußgängern. Während die Bürger im Stadtentwicklungsbeirat – wo auch ein Polizeivertreter seinen „Segen“ gegeben hatte – die Idee gut aufgenommen hatten, äußerten sich Stadträte der CSU und FWG skeptisch. So verwies CSU-Fraktionssprecher Dr. Wolfgang Krämer auf die überörtliche Bedeutung der Reichenhaller Straße mit entsprechend vielem Durchgangsverkehr. „Will ich damit den Radverkehr koppeln? Auf keinen Fall, das hat doch gar keinen Sinn“, meinte er im Hinblick auf eine „Pseudo-Sicherheit“, die der Radschutzstreifen biete. Nicht nur, weil die gestreifte Linie überfahren werden dürfe – sondern auch, weil die vorgeschriebenen 1,50 Meter Abstand von Autofahrern zu Radlern trotz Streifen nur schwer eingehalten werden könnten. Zu eng sei die verbleibende Fahrbahn. „Auch die Polizei hat das Problem erkannt“, erinnerte 2. Bürgermeister Josef Kapik (CSU). Lukas Maushammer (Grüne) war da anderer Meinung: „Der Streifen gibt Orientierung.“


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Trotzdem blieb Krämer dabei: Man habe ein gutes Netz an Nebenstraßen, die die Radler stattdessen nutzen könnten – und die man im Zweifelsfall nur besser beschildern müsste. Beispielhaft nannte er den Heideweg. Fraktionskollege Stefan Standl wiederum erinnerte an die bereits oft zitierte Radler-Achse Watzmannstraße – Bahnunterführung – Lindenstraße und stellte fest: „Da fahren die Radler, und nicht auf der Reichenhaller Straße.“ Für die gebe es nicht einmal belastbare Zahlen, wie viele Radler unterwegs seien.

Bürgermeister Markus Hiebl hielt dagegen: „Das Angebot schafft hoffentlich die Nachfrage.“ „Wir planen schließlich für die Zukunft“, meinte Wilhelm Schneider (Grüne). Und ein Umleiten sah Helmut Fürle (SPD) kritisch: „Radler schauen doch nicht auf die Schilder, sondern nehmen den kürzesten Weg.“ Auch Robert Judl („Pro Freilassing“) hielt ein „Hin- und Herleiten“ der Radler für einen „Krampf“. Das hatte zuvor Thomas Ehrmann (FWG) quasi als „Kompromiss“ ins Spiel gebracht – also Radstreifen an der Reichenhaller Straße da, wo auch Ziel- und Quellverkehr an dieser Straße ist – zum Beispiel auf Höhe der Praxen am Bahnhof. Ansonsten war aber auch er für die Nebenstraßen-Lösung.

Bürgermeister Markus Hiebl hielt aber an der „großen“ Radstreifen-Lösung fest und erinnerte dabei auch an Fördergelder, die entgehen, wenn man die Straße ohne Streifen ausbaut. Mangels genauer Zahlen konnte das die CSUler und FWGler allerdings nicht überzeugen, weshalb die Abstimmung am Mittwoch 11:11 endete und einen ratlosen Bürgermeister Hiebl zurückließ. Nach kurzer, scharfzüngiger Diskussion mit dem Gremium konnte er immerhin durchsetzen, dass die Angelegenheit am nächsten Tag gleich wieder auf der Tagesordnung stehen sollte.


Entgehen 200.000 Euro Förderung?


So war der Weg zum zweiten Akt des Dramas geebnet – denn an der Grundsatzproblematik hatte sich über Nacht freilich nichts geändert, als nun das auf 24 Mitglieder angewachsene Gremium am Donnerstag wieder zusammentrat. Darum kritisierten einige Räte scharf, dass nun über die selbe Angelegenheit nochmal abgestimmt werden sollte. „Die Beschlussvorlage wurde gestern abgelehnt, wir können doch nicht so lange abstimmen, bis das Ergebnis passt“, schimpfte Max Standl (CSU).

Bürgermeister Hiebl war da anderer Meinung: „Wir haben jetzt andere Informationen als gestern.“ Denn zwischenzeitlich hatte das Bauamt ausgerechnet, wie viel Fördergeld der Stadt eigentlich entgeht, wenn man an der Reichenhaller Straße keinen Radstreifen aufbringt: Mit rund 200.000 Euro wurde der Unterschied beziffert. Außerdem hatte das Rathaus in der Zwischenzeit Martin Bambach, Bereichsleiter Straßenbau beim staatlichen Bauamt eingeladen, um mit seiner Fachmeinung auf den letzten Metern doch noch den ein oder anderen zum Umdenken zu bewegen.


​ Reichenhaller Straße ohne Streifen eine „Rennstrecke“?


Denn Bambachs Meinung war klar: „Radstreifen bieten echte Sicherheit“, sagte er in Richtung all derer, die von einer „Pseudo-Sicherheit“ sprachen. Und: „Am meisten Sinn hat so ein Streifen, wenn er durchgängig ist.“ Diese Durchgängigkeit sei hier machbar, wenn man Ludwig-Zeller-Straße und Laufener Straße weiterdenkt. Bambach warnte außerdem davor, die Straße ganz ohne Streifen auszubauen – denn die dann neu sanierte, vergleichsweise breite Reichenhaller Straße könnte dann einer regelrechten Rennstrecke gleichen.

„Wäre schön gewesen, wenn wir diese Fachmeinung schon gestern gehabt hätten“, so Kapik. Trotzdem sah auch er es so, dass man jetzt nicht mehr zurückkönne – und lehnte deshalb die neuerliche Beschlussvorlage ab. Auch alle „Alternativvorschläge“, die das Rathaus auf die Schnelle aus dem Hut gezaubert hatte, fielen durch. Darunter dann doch noch der Kompromissvorschlag von Ehrmann und ein Ausbau ganz ohne Streifen.

Nicht nur Kapik änderte sein Abstimmungsverhalten nicht – de facto stimmten auch alle anderen Räte wieder genauso ab wie tags zuvor – nur diesmal in „namentlicher Abstimmung“, die 3. Bürgermeister Wolfgang Hartmann (Grüne) beantragt hatte „damit die Bürger sehen, wie die Stadträte mit der finanziellen Verantwortung umgehen.“

Trotzdem: Weil auch Bernhard Schmähl (Pro Freilassing) und Julia Albrecht (FWG) sich jeweils der Mehrheitsmeinung ihrer Fraktion anschlossen, war das Ergebnis ein Patt wie am Vortag. Jetzt gibt es also vorerst gar keinen Beschluss zur weiteren Vorgehensweise an der Reichenhaller Straße, das Projekt liegt auf Eis. Zumindest grundsätzlich weiterlaufen soll die Planung für Laufener Straße und Ludwig-Zeller-Straße. Dafür stimmten die Räte bei der Gegenstimme von Christine Schwaiger (CSU). Ob mit oder ohne Streifen, steht auch hier in den Sternen.

Johannes Geigenberger